ALBÉRIC MAGNARD

Eine Biographie wie ein (Helden-)Roman

zum 150. Geburtstag des französischen Komponisten

Ein Feuilleton, erschienen im Juni 2015 in der "Wiener Zeitung"

Es gibt Biographien, die sich wie Drehbücher lesen. Im Falle von Albéric Magnard wäre die Versuchung für den Regisseur wohl groß, den Streifen mit der letzten, der spektakulärsten Lebensszene beginnen zu lassen: Nach dem Vorstoß deutscher Truppen im August 1914 bringt der französische Komponist seine Frau und die beiden Töchter in Sicherheit. Er selbst bleibt arbeitend auf seinem Landgut in Baron, in der östlichen Picardie, zurück und erwartet den heranrückenden Feind. Am 3. September erspäht Magnard Kavalleristen einer deutschen Aufklärungspa-trouille Alexander von Klucks auf seinem Grundstück. Er lädt sein Armee-Gewehr und zielt vom Fenster seines Hauses auf die Soldaten. Einer ist sofort tot, ein zweiter schwer verwundet. Magnard ignoriert die Aufforderungen, sich zu ergeben. Daraufhin wird das Feuer erwidert. Das Haus brennt bis auf die Grundmauern ab. Der Künstler kommt in den Flammen um, seine Manuskripte werden vernichtet.

Ein Geist, der verneint

 

Ein Heldentod? Mort pour la France? 1927 hat man eine Straße im 16. Arrondissement von Paris umbenannt: nicht irgendeine Straße, die Richard-Wagner-Straße hieß fortan Rue Albéric Magnard. Doch dass Magnard, abgesehen von seinem dramatischen Sterben, tatsächlich ein Held war, lässt sich anhand seines Lebensweges nicht konstatieren. Eher formt sich das Charakterbild eines in sich gekehrten, stolzen, eigenwilligen Künstlers, eines Geistes, der gerne und oft verneint: Magnard ist kein "kleiner" Künstler (tatsächlich war er nur 1,62 Meter groß), vielmehr einer, der sich lieber klein macht, als falsche - in seinen Augen ungerechte - Größe zu akzeptieren.

 

"Sohn des Figaro" wird er in seiner Jugend genannt. Magnards Vater ist Bestsellerautor, Herausgeber und Chefredakteur der Zeitung "Le Figaro"; er hat für seinen Aufstieg - vom Zollbeamten am Pariser Martin-Kanal zum Medienzar - hart kämpfen müssen. Der Sohn, mit der Möglichkeit zur besten sozialen Vernetzung aufgewachsen, will sich nicht in ein gemachtes Nest setzen. Er findet seinen Weg über Seitenpfade; gleich nach der Schule probiert er für ein halbes Jahr ein klösterliches Leben in England. Nach dem Militärdienst absolviert er ein rechtswissenschaftliches Studium. Musik hat ihn schon als Kind fasziniert. Sie wird zu seinem geheimen Rückzugsort, hilft wohl auch, scharfkantige Bruchlinien zu mildern. Eine davon bricht in seiner frühen Kindheit auf: Die Mutter des Vierjährigen stürzt sich in selbstmörderischer Absicht aus dem Fenster - und stirbt.

 

Die zweite Ehefrau seines Vaters lehnt der Sohn ebenso ab wie alle Kontakte, die ihm der Vater zu vermitteln versucht. Die sogenannte "gute Gesellschaft" interessiert Albéric wenig. Journalistischen Lock-Angeboten misstraut er: Wer will mit ihm - und wer doch eher mit seinem mächtigen Vater verkehren? Magnards skeptischer Geist stellt in einem Brief die prinzipielle Frage: "Journalist? Ist es denn in Ihrer Natur, tausende Plattitüden zu produzieren, um schließlich als erster eine Neuigkeit zu wissen, die man morgen dementieren wird?" Nur ein Offert schlägt er nicht aus: Magnard junior formuliert Musikkritiken für den "Figaro"; Texte, die ihm keine Freunde, sondern eher Feinde bescheren werden . . .

 

Lob seinem eigenen Werk gegenüber wird er zeitlebens skeptisch bleiben. So mancher Zeitgenosse gewinnt den Eindruck, Magnard tue alles, um von der großen Öffentlichkeit nicht wahrgenommen zu werden. Das beträchtliche väterliche Vermögen macht den Komponisten soweit unabhängig, dass er keine künstlerischen Kompromisse eingehen muss. Sofern er seine Konzerte nicht selbst finanziert, ist es sein Studienfreund Guy Ropartz, seit 1894 Leiter des Konservatoriums in Nancy, der Magnards Werke aufführt.

 

Beethoven verbunden

 

Ropartz wird es auch sein, der - aus dem Gedächtnis - die im Feuer verlorengegangenen Akte der Oper "Guercur" rekonstruiert. Post mortem - das Stück kommt Anfang der 1930er Jahre erstmals auf die Bühne. Magnard war zeitlebens am Beifall des Publikums wenig interessiert - trifft ihn doch jede in seinen Augen unfaire Kritik, die nicht nur hinter vorgehaltener Hand geäußert wird, ins Mark. Was, fragt manch einer, bliebe von seinen Kompositionen - wenn nicht der Einfluss des allmächtigen Vaters so groß wäre? Solchen Vorurteilen begegnet Magnard gallig, in humorloser Verbitterung. Er hat sehr genaue Vorstellungen von seiner kompositorischen Position.

 

Den musikalischen Impressionismus lehnt er ab. Eher fühlt er sich der schnörkellosen Klassik eines Ludwig van Beethoven verbunden. Dennoch glaubten die Chronisten stets, Affinitäten zu Gabriel Fauré, César Frank, aber auch zu Gustav Mahler aus seinen Klängen heraushören zu können. Magnards Opern arbeiten mit der Leitmotiv-Technik Richard Wagners und untermauern so das Urteil, sein gesamtes Werk bliebe der Romantik verhaftet. An seinen Freund Ropartz schreibt Magnard, die "Debussy-Revolution" sei das Vorspiel zu einer Evolu- tion, die "zur endgültigen Zerstörung der europäischen Musik führen" würde.

 

Schönbergs musikgeschichtliches "Zwischenspiel" lernt er wohl nie kennen. Dennoch findet Magnard seinen höchstpersönlichen Anschluss ans 20. Jahrhundert. Die Opern, die dritte und vierte Symphonie, eine Violinsonate und das Streichquartett wecken über Jahrzehnte hin immer wieder das Interesse der Interpreten. Seine Sonate für Violoncello und Klavier kündigt in manchen Passagen bereits Techniken an, die wenig später der Deutsche Paul Hindemith kultivieren wird.

 

Apropos deutscher Komponist: Ohne das "Erweckungserlebnis" auf dem grünen Hügel von Bayreuth wäre Magnards Komponistenleben wohl anders verlaufen. Als junger Jurist erlebt er im Wagner-Festspielhaus eine Aufführung von "Tristan und Isolde". Zurück in Paris, steht für ihn fest: Er wird weder Anwalt noch Notar, sondern inskribiert am Konservatorium, wo er unter anderem in der Klasse von Jules Massenet studieren wird. Hier lernt er César Franck und Vincent d’Indy kennen. Er ist zweifelsfrei begabt, erringt den ersten Preis in Harmonielehre, wird später auch selbst an d’Indys Schola Cantorum, dem Konkurrenz-Institut des Pariser Konservatoriums, unterrichten.

 

Dass sich Magnards Gehör im Laufe seines Lebens dramatisch verschlechtert, mag man als schicksalhafte Parallele zu seinem Idol, dem ebenfalls hitzköpfigen und kompromisslosen Beethoven deuten. Für Magnard wird das Gebrechen zu einer der Ursachen seiner Verbitterung, für seinen Rückzug ins Private und für die Ausbildung seines zum Fanatismus neigenden Charakters. Ungläubig im religiösen Sinn, doch tief durchdrungen von einer höheren Gerechtigkeit, setzt er seine Schritte, pflegt Überzeugungen, ohne Rücksicht auf seinen eigenen Vorteil.

 

"Ein Künstler, der nicht bereit ist für die Selbstverleugnung, ist entweder nahe dem Tod - oder der Schande", schreibt er einmal. Immerhin ist seine Musik unter Kennern bereits zu seinen Lebzeiten so anerkannt, dass sein Bewunderer Romain Rolland 1904 versucht, die Aufmerksamkeit von Richard Strauss auf ihn zu lenken: "Er scheint mir neben Dukas und Debussy der ursprünglichste von den neuen französischen Musikern. Vielleicht hat er etwas Stärkeres, Rauheres als die beiden anderen . . ."

 

Schmaler Werkkatalog

 

Magnards schlankes Werkregister umfasst weniger als 30 Kompositionen, unter anderem vier Symphonien - die Einspielung der Dritten mit dem Orchestre de la Suisse Romande unter Ernest Ansermet von 1968 hat Maßstäbe gesetzt: Sie bleibt bis heute eine der wenigen Gelegenheiten, Ma-gnards Musik von einem erstklassigen Interpreten zu hören. Neben einem Chant funèbre auf den Tod des Vaters finden sich außerdem Kammermusik und die drei Opern "Yolande", "Guercur" und "Bérénice" in seinem Werkkatalog. "Programmatisches" entlädt sich in "Hymnen". Eine schreibt er für Julia, die Schöne mit dem unehelichen Kind, die er hochromantisch beim Spazierengehen (oder auch aufgrund einer Zeitungsannonce?) im Bois de Boulogne kennen lernt und 1896 heiratet. Ihr gilt seine "Hymne an Venus".

 

Bekannter noch wird die "Hymne an die Gerechtigkeit", komponiert 1902, anlässlich der Dreyfus-Affäre, Magnards Stellungnahme für den jüdischen Artillerie-Offizier Dreyfus, dem fälschlicherweise vorgeworfen wurde, mit Deutschland kooperiert zu haben. Dabei ist Magnard selbst zu antisemitischen Äußerungen fähig: "Lamoureux gibt weiterhin unerträgliche Konzerte und Colonne (der Dirigent Edouard Colonne, Anm.) lässt seinen rechten Arm bewundern. . . dieser schreckliche Jude hat neulich eine Schubert-Symphonie begraben. . ."

 

Im Zuge der Dreyfus-Affäre geht es Magnard denn auch weniger um Antisemitismus, als um die Idee der Gerechtigkeit. Am Tage der Veröffentlichung von Émile Zolas "J’accuse" formuliert er seine Solidaritäts-Stellungnahme, quittiert sofort seinen Dienst in der Armee, der er noch als Reserveoffizier zur Verfügung steht.

 

Feministisch überzeugt

 

Um Gerechtigkeit für die Frau geht es ihm in der Oper "Bérénice". Magnard verarbeitet den historischen "Titus"-Stoff, stellt jedoch - anders als Mozart oder Corneille - die weibliche Figur in den Vordergrund. Im Vorwort schreibt er: "Ich verstehe jeden Tag besser, um wie viel Frauen höher stehen als Männer, was die Moral und Ethik angeht. . ." Der Komponist, der seine feministische Überzeugung unter anderem auslebt, indem er sich - für einen Mann seines Standes damals absolut unüblich - im Haushalt nützlich macht, widmet seine vierte Symphonie einer feministischen Organisation. Von einem fast ausschließlich weiblich besetzten Orchester lässt er sie - mit leider katastrophalem Ergebnis - uraufführen. Erst die Pariser Aufführung 1944, übrigens als erstes Werk im ersten Konzert des Orchestre National nach der Befreiung von Paris, wird ein Erfolg.

 

Zu Lebzeiten ist Magnards Werk wenig Anerkennung vergönnt. Soziales Engagement und das Wechseln der "Klassen-Front" wirken sich zuweilen sehr nachteilig auf ihn und sein Werk aus. Eine kommunistische Druckerei, "l’Émancipatrice", der er seine Werke anvertraut, nimmt das "Bürgersöhnchen" finanziell aus.

 

Später wird er seinen Verleger feuern, weil er es für ethisch unvertretbar hält, dass ein und dieselbe Institution für seine Musik wirbt - und sie gleichzeitig auch verkauft. Musik ist für den eigenwilligen Künstler stets ein ethischer Akt, Schönheit und Gerechtigkeit hält er für untrennbar. Nach diesem Prinzip lebt er, selbst wenn sich seine Handlungen gewissermaßen als "Schuss ins Knie" herausstellen. Nach diesem Prinzip stirbt er, nach Schüssen aus seinem Armeegewehr - als eines der ersten französischen Opfer des Ersten Weltkrieges.

 

Am 9. Juni 2015 jährt sich sein Geburtstag zum 150. Mal. Wenn man seiner auch nicht mehr als Komponist im großen Rahmen gedenkt, so doch vielleicht als Vorfahre querdenkender Widerstandskämpfer, unzeitgemäßer Nonkonformisten und Wut-Bürger.