Der Isenheimer Altar – von allen Seiten!

Wiener Kunstfreunde können im KHM Hans Burgkmair, Albrecht Dürer und Hans Holbein d. Ä. auf ihrem Schaffensweg folgen. Holbein soll in Basel – oder Isenheim verstorben sein. Das elsässische Isenheim, einst habsburgisch, barg jenen Altar, der zum Referenzkunstwerk des beginnenden 16. Jahrhunderts wurde. So lohnt sich ein Trip nach Colmar zum restaurierten Museumsglanzstück.

Im Isenheimer Antoniterkloster war Matthias Grünewald (eigentlich: Mathis Gothard Nithart) 1512 bis 1516 mit der Schaffung des magischen Klapp-Altars beschäftigt. Dieses spätmittelalterliche Weltwunder, heute Weltkulturerbe, das aus Isenheim schon während der Revolution nach Colmar „reiste“, wurde während der Coronapandemie mittels modernster Methoden einem sanften Reset unterzogen. Das neue Farb-Erlebnis lohnt den Besuch: Das quasi benachbarte Straßburg mit angesagter Altstadt samt Münster und reicher Museumsszene ist mit dem Nachtzug erreichbar. Und da ein Viertel der Besucher des Isenheimer Altars aus dem deutschsprachigen Raum kommt, werden seit Kurzem im französischen Museum Unterlinden auch ausführliche deutschsprachige Führungen angeboten.

Christus trägt Male des Antoniusfeuers

Im Museum kann man die Konstellationen des Klapp-Altars mit seinen elf Bildteilen – und den Skulpturen Niklaus von Hagenaus im Mittelschrein – umkreisen. Somit sind alle „Wandlungen“ gleichzeitig zu sehen. Das war nicht möglich, solang das Kunstwerk in der Kirche seinen sakralen „Dienst“ versah.

Das geschlossene Retabel (Altaraufsatz) mit der imposanten Kreuzigung wurde flankiert vom Pestheiligen Sebastian und Antonius, der für das sogenannte Antoniusfeuer – eine gefährliche Getreidevergiftung – sowohl als Bringer als auch als Heiler galt. Diese dramatische Schauseite war an Werk- und Fastentagen sichtbar.

Verstörend die Grausamkeit, mit der der Maler Krankheitssymptome wiedergibt. Dieser Schmerzensmann leidet an einer der gefürchteten Seuchen jener Zeit, trägt auf der Haut die Vergiftungsmale des Mutterkorn-Getreidepilzes. Wer am Antoniusfeuer erkrankte, war von eitrigen Geschwüren übersät. So weist der überlebensgroße Christus am Kreuz aufgeplatzte Hautstellen und offenes Fleisch auf. Die Lippen des Toten sind blau. Keine Spur von Erlösung.


Nicht mehr in schwarzer Nacht


Oder doch? Seit der Restaurierung wird die Szene nicht mehr von schwarzer Nacht umhüllt, sondern von einem tiefblauen Himmel mit grauen und schwarzen Wolken. Die Direktorin des Museums interpretiert diesen Horizont als Hoffnungsschimmer für die Kranken, die von den Mönchen vor den Altar gebracht wurden, um aus dem Leiden Christi Hoffnung auf (selten erfolgte) Heilung und die Auferstehung zu schöpfen.

Ganz anders die spirituelle Botschaft des zweiten „Bühnenbilds“ des Altars: Die Szenen mit dem Engelskonzert, Mariä Verkündigung und Menschwerdung Christi waren für Festtage vorgesehen, sozusagen das Grünewald’sche Bildprogramm für die Weihnachtszeit und die Festperioden zu Ostern und Pfingsten. Die Altar-Konstellation mit den Schnitzfiguren hingegen zeigte man zum Fest des Namenspatrons Antonius sowie anlässlich der Ablegung von Gelübden und bei Priesterweihen.

Die Gläubigen waren empfänglich für das irreal helle Lichtwunder von Grünewalds Auferstehung. Doch war das Kunstwerk immer auch weltlicher Begehrlichkeit ausgesetzt, schon Rudolf II. von Habsburg wollte den Altar kaufen. Während des Ersten Weltkriegs im Winter 1917 wurde das Kunstwerk „aus Sicherheitsgründen“ bis 1919 in die Alte Pinakothek nach München „verlegt“, wo es als Symbol früher deutscher Kunst eine Wallfahrt auslöste. Vor allem Intellektuelle gingen auf Pilgertour. Man zog Verbindungslinien von dem spätmittelalterlichen Kunstwerk zu Expressionisten wie Max Beckmann, Paul Klee oder August Macke. Der Komponist Paul Hindemith verwandelte einige der Bilder in musiktheatralische Szenen für seine Grünewald-Oper „Mathis der Maler“.

Thomas Mann sah „süßes Geschiller“

Von Thomas Mann allerdings ist überliefert, ihm wäre die „Farben-Festivität der Madonnenszene“ in ihrem „süßen Geschiller“ fast etwas zu weit gegangen. Dabei muss man sich vor Augen halten, dass der Altar ursprünglich mit Kerzen raffiniert beleuchtet wurde. Im Konzept war genau festgelegt, wo der Kelch während der Wandlung zu halten war. Eine für Laien auf Deutsch verfasste Messauslegungs-Handschrift mit dem Text für diese Elevation befindet sich in der Stiftsbibliothek Melk. Das Museum Unterlinden in Colmar ist heute das zweithäufigst besuchte Frankreichs. Nach dem Louvre, versteht sich.