KUNST IM RÜCKSPIEGEL


Als die documenta ein halbes Jahrhundert
Revue passieren ließ

("Die Presse", 2. November 2005)

Beschwörung mit Brüchen

Die erste "documenta", die im Nachkriegsdeutschland 1955 als Begleitausstellung zur Bundesgartenschau stattfand, sollte einen eminenten Nachholbedarf decken. Alles, was man Kunstinteressierten während Jahrzehnten, während Nazizensur und Kriegszeit - Kassel war als wichtiger Industriestandort fast gänzlich zerbombt worden -, vorenthalten hatte, konnte endlich präsentiert werden. Doch dem Initiator Arnold Bode war nicht nur die "Aufarbeitung" der Malerei ein Anliegen. Was er ins Leben gerufen hatte, würde man heute als Event bezeichnen. Neben der bildenden Kunst präsentierte er Dichtung, Drama, Musik und Film als "Übersicht über die Manifestationen des europäischen Geistes".
Die Jubiläumsausstellung "50 Jahre documenta" in der Kunsthalle Fridericianum will und kann keine Erinnerungsausstellung sein. Es wäre schwer möglich gewesen, die Exponate der vergangenen elf documentas - die letzte fand 2002 statt, die nächste wird 2007 sein - zurück nach Kassel zu bringen. Unter dem Titel "archive in motion" wird dennoch in elf Kabinen eine Rekapitulation in Form von Fotos, Filmen und Videostatements versucht, insbesondere aber, die Intention und Stimmung der jeweiligen documenta heraufzubeschwören - inklusive der jeweils aktuellen Kleider- und Haarmode. Als wahre Fundgrube erwies sich dafür das städtische "documenta Archiv". Es wurde bereits 1961, als sich die documenta zur weltweit größten Ausstellung für zeitgenössische Kunst zu entwickeln begann, angelegt. Heute befindet sich in diesem eine der bedeutendsten Spezialbibliotheken für Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts.

Gegenläufig zur Kunstgeschichte

Den Bogen ins Heute spannen "echte" zeitgenössische Künstler wie Friederike Feldmann, Jonathan Monk oder Sabine Groß, die sich rückwirkend von je einer documenta inspirieren ließen. Im Kapitel "Diskrete Energien" finden dagegen sozusagen historische Wiederbegegnungen statt. Hier hat man tatsächlich ehemalige documenta-Exponate zurückgeholt, jedoch nicht mit der Absicht, den heute etablierten Kanon der Nachkriegsmoderne zu wiederholen. Die ausgewählten Werke verhalten sich "gegenläufig zur Kunstgeschichtsschreibung", entzogen sich über die Jahre den Museen, sind zu poetisch oder zu anarchisch. Gleichwohl finden sich Namen wie Samuel Beckett, Joseph Beuys, David Hockney und Pier Pasolini darunter. Zwei Bilder von Paula Modersohn-Becker erinnern an die erste documenta, die noch vorwiegend gegenständliche Kunst präsentierte.

Ein weiterer Teil der Jubiläumsschau widmet sich, auf einem eigenen Stadtplan dokumentiert, den documenta-Überbleibseln auf öffentlichen Plätzen in Kassel. In einem Kino-Teil schließlich werden Filmdokumente, etwa Jean Renoirs "une partie de campagne", bis zurück in die 30er Jahre gezeigt.

Insgesamt ist die Ausstellung also keine aalglatte Retrospektive, sondern ein verwirrender Gang durch ein halbes Jahrhundert Kunst. Doch eine documenta-Rückschau kann nur voller Widersprüche und Brüche sein. Wer, wie in Kassel, im Rückspiegel die zeitgenössische Kunst vorüberziehen lässt, erweckt mit ihr schließlich auch unweigerlich die politischen und gesellschaftlichen Strömungen wieder zum Leben.