Die erste "documenta", die im Nachkriegsdeutschland 1955 als
Begleitausstellung zur Bundesgartenschau stattfand, sollte einen
eminenten Nachholbedarf decken. Alles, was man Kunstinteressierten
während Jahrzehnten, während Nazizensur und Kriegszeit - Kassel war als
wichtiger Industriestandort fast gänzlich zerbombt worden -,
vorenthalten hatte, konnte endlich präsentiert werden. Doch dem
Initiator Arnold Bode war nicht nur die "Aufarbeitung" der Malerei ein
Anliegen. Was er ins Leben gerufen hatte, würde man heute als Event
bezeichnen. Neben der bildenden Kunst präsentierte er Dichtung, Drama,
Musik und Film als "Übersicht über die Manifestationen des europäischen
Geistes".
Die Jubiläumsausstellung "50 Jahre documenta" in der
Kunsthalle Fridericianum will und kann keine Erinnerungsausstellung
sein. Es wäre schwer möglich gewesen, die Exponate der vergangenen elf
documentas - die letzte fand 2002 statt, die nächste wird 2007 sein -
zurück nach Kassel zu bringen. Unter dem Titel "archive in motion" wird
dennoch in elf Kabinen eine Rekapitulation in Form von Fotos, Filmen und
Videostatements versucht, insbesondere aber, die Intention und Stimmung
der jeweiligen documenta heraufzubeschwören - inklusive der jeweils
aktuellen Kleider- und Haarmode. Als wahre Fundgrube erwies sich dafür
das städtische "documenta Archiv". Es wurde bereits 1961, als sich die
documenta zur weltweit größten Ausstellung für zeitgenössische Kunst zu
entwickeln begann, angelegt. Heute befindet sich in diesem eine der
bedeutendsten Spezialbibliotheken für Kunst des 20. und 21.
Jahrhunderts.
Gegenläufig zur Kunstgeschichte
Den
Bogen ins Heute spannen "echte" zeitgenössische Künstler wie Friederike
Feldmann, Jonathan Monk oder Sabine Groß, die sich rückwirkend von je
einer documenta inspirieren ließen. Im Kapitel "Diskrete Energien"
finden dagegen sozusagen historische Wiederbegegnungen statt. Hier hat
man tatsächlich ehemalige documenta-Exponate zurückgeholt, jedoch nicht
mit der Absicht, den heute etablierten Kanon der Nachkriegsmoderne zu
wiederholen. Die ausgewählten Werke verhalten sich "gegenläufig zur
Kunstgeschichtsschreibung", entzogen sich über die Jahre den Museen,
sind zu poetisch oder zu anarchisch. Gleichwohl finden sich Namen wie
Samuel Beckett, Joseph Beuys, David Hockney und Pier Pasolini darunter.
Zwei Bilder von Paula Modersohn-Becker erinnern an die erste documenta,
die noch vorwiegend gegenständliche Kunst präsentierte.
Ein
weiterer Teil der Jubiläumsschau widmet sich, auf einem eigenen
Stadtplan dokumentiert, den documenta-Überbleibseln auf öffentlichen
Plätzen in Kassel. In einem Kino-Teil schließlich werden Filmdokumente,
etwa Jean Renoirs "une partie de campagne", bis zurück in die 30er Jahre
gezeigt.
Insgesamt ist die Ausstellung also keine aalglatte
Retrospektive, sondern ein verwirrender Gang durch ein halbes
Jahrhundert Kunst. Doch eine documenta-Rückschau kann nur voller
Widersprüche und Brüche sein. Wer, wie in Kassel, im Rückspiegel die
zeitgenössische Kunst vorüberziehen lässt, erweckt mit ihr schließlich
auch unweigerlich die politischen und gesellschaftlichen Strömungen
wieder zum Leben.