Hans Küng, das von Ihnen postulierte Weltethos meint eine globale Ethik.
Wie verhalten sich dazu die vielzitierten europäischen Werte?
Europäische Werte können sicherlich nicht nur die einer Technokratie
oder einer Marktwirtschaft sein. Von der Tradition her waren es immer
geistige Werte, ob im Griechentum, Christentum oder in der Aufklärung.
Insofern hat das unglückliche Benehmen der EU-Staaten gegenüber
Österreich vielleicht die glückliche Folge, daß jetzt alle diese Staaten
über ihre eigenen Werte ins klare kommen. Darüber hat man bisher kaum
geredet. Man müßte einen Weg der Mitte gehen, zwischen einem
technokratisch-wissenschaftlichen, industriellen Europa und einem
forciert religiös-römisch-katholischen Europa, das meint, nochmals das
Mittelalter aufwärmen zu können.
Wie meinen Sie das?
Es hat wenig Zweck, aus europäischen Werten eine bestimmte Einstellung
zur Geburtenregelung, zur Abtreibung, zur Homosexualität oder zur
Sterbehilfe abzuleiten. Da gehen die Meinungen sehr weit auseinander.
Aber es gibt Werte, die allen europäischen Religionen, Glaubenden und
Nichtglaubenden gemeinsam sind. Die Seele Europas kann weder eine
römisch-katholische sein, wo die Wallfahrtsorte im Mittelpunkt der
Europakarte stehen, noch eine der Technokratie, denn die hat gar keine
Seele. Es muß ethische und sittliche Grundwerte geben, ein Weltethos!
Alle, auch die Zweifler und Atheisten, sofern sie nicht einfach
Nihilisten, sondern Humanisten sind, sollen ihren Beitrag leisten. In
jeder Schulklasse, in jedem Unternehmen sollte die goldene Regel hängen:
Tu nicht, was du nicht willst, daß dir ein anderer tut.
Sehen Sie die drei Weisen als eine Art Ethikkommission, die ein Ethikmanko in der Bevölkerung korrigieren soll?
Ich habe nichts übrig für dieses Unternehmen. Ich habe diesen
Vorschlag weder gemacht noch mitgetragen, ich finde es einigermaßen
peinlich, daß andere Nationen in dieser Form hier eine Nation überprüfen
wollen. Ich habe auch nichts übrig für Leute wie Herrn Haider, insofern
sie Parolen vertreten haben, die fremdenfeindlich und menschenfeindlich
sind. Daß einige andere Nationen meinen, man kann untersuchen, was hier
in Ordnung ist oder nicht, das finde ich reichlich arrogant. Man könnte
auch eine Kommission nach Paris schicken, um zu schauen, wie weit da
die Korruption in Regierungskreisen verbreitet ist oder was in Italien
an ähnlichen Strömungen da ist. Das ist meines Erachtens nach nicht die
richtige Methode. Vor allem müssen auch rechtliche Prozeduren
eingehalten werden, so via Telefonseelsorge bestimmte Dinge abmachen und
dann vertreten, das sei ein EU-Beschluß, das hat mir nicht gefallen.
Also goldene Regel auch innerhalb der EU?
Wenn ich einen Rat geben dürfte - ich weiß nicht, ob einer von den
dreien das liest, aber der ganze Rapport würde in Österreich wesentlich
besser und konstruktiver aufgenommen werden, wenn gleichzeitig auch
gesagt würde, daß solche Forderungen auch ihre Rückseite haben für die
anderen. Auch in anderen EU-Ländern hätte der Rapport einen besseren
Effekt, wenn er zugleich ein Anlaß wäre zu überlegen: Haben wir nicht
auch Fremdenfeindlichkeit in Dänemark oder in Südfrankreich, sogar in
meiner Schweizer Heimat, die ja nicht zur EU gehört? Das müßte man auch
im Sinne der goldenen Regel betrachten.
Wie kann man denn mit einem umfassenden Ethos durchdringen?
Einerseits von oben, über die Politik - Tony Blair zum Beispiel war
bei unserer Stiftung "Weltethos" in Tübingen. Es muß von oben, aber auch
von unten kommen. Unsere siebenteilige Filmserie Spurensuche ging an
die Bundesländer, an Schulen, die das benutzen und das zum Anliegen
machen, was einzelne Kirchen nicht können. Alle Bereiche müssen erfaßt
werden: der Kindergarten, die Partnerschaft zwischen Mann und Frau,
Abrüstung und Frieden . . . Ich weiß aus ungezählten Reaktionen, daß die
Menschen sich danach sehnen, wieder etwas zu haben, woran man sich
halten kann - aber ohne diese moralisierende Enge, die dann gleich den
einzelnen in gewissen Sexualfragen festnageln will, was er in seinem
Schlafzimmer tun soll. Ich habe nichts übrig für Moralisiererei. Aber
die öffentliche und persönliche Moral soll sich an gewissen ethischen
Standards ausrichten. Wie die im einzelnen interpretiert werden können,
ist keine einfache Sache, da kommt die Dialektik zwischen Norm und
Situation zum Tragen.
Was heißt Ehrfurcht vor dem Leben im Kontext der Gentechnologie?
Das kann man nicht einfach doktrinär von oben, von der Religion oder
vom Ethos her entscheiden. Für überzeugende Lösungen muß das im Dialog
mit den betreffenden Wissenschaftlern, die die Details wissen,
ausgearbeitet werden.
Soll der Religionsunterricht durch Ethikunterricht ersetzt werden?
In Deutschland ist Ethikunterricht weit verbreitet, er kann parallel
zum Religionsunterricht, aber auch im Fach Geographie anläßlich eines
Films über China oder Indien stattfinden. Religionsunterricht soll
zweierlei deutlich machen: Was im Ethos allen gemeinsam, und was
spezifisch christlich ist. Die Bergpredigt hat natürlich Normen, die
weit über ein Weltethos hinausgehen. Sie können nicht zum globalen
ethischen Standard machen, zwei Meilen zu gehen, wenn sie einer
gezwungen hat, eine mit ihnen zu gehen. Die Bergpredigt ist viel
radikaler, und ein Christ ist oft herausgefordert, halt noch etwas mehr
zu tun als das, was allgemein gängig ist. Das kann man nicht zum Gesetz
machen.