GLOBALE ETHIK - WERTE ?

Ein Gespräch mit dem Theologen Hans Küng
erschienen am 9. September 2000 im "Spectrum" der Tageszeitung "Die Presse"

"Ich habe nichts über für Moralisiererei"

Hans Küng, das von Ihnen postulierte Weltethos meint eine globale Ethik. Wie verhalten sich dazu die vielzitierten europäischen Werte?

Europäische Werte können sicherlich nicht nur die einer Technokratie oder einer Marktwirtschaft sein. Von der Tradition her waren es immer geistige Werte, ob im Griechentum, Christentum oder in der Aufklärung. Insofern hat das unglückliche Benehmen der EU-Staaten gegenüber Österreich vielleicht die glückliche Folge, daß jetzt alle diese Staaten über ihre eigenen Werte ins klare kommen. Darüber hat man bisher kaum geredet. Man müßte einen Weg der Mitte gehen, zwischen einem technokratisch-wissenschaftlichen, industriellen Europa und einem forciert religiös-römisch-katholischen Europa, das meint, nochmals das Mittelalter aufwärmen zu können.

Wie meinen Sie das?

Es hat wenig Zweck, aus europäischen Werten eine bestimmte Einstellung zur Geburtenregelung, zur Abtreibung, zur Homosexualität oder zur Sterbehilfe abzuleiten. Da gehen die Meinungen sehr weit auseinander. Aber es gibt Werte, die allen europäischen Religionen, Glaubenden und Nichtglaubenden gemeinsam sind. Die Seele Europas kann weder eine römisch-katholische sein, wo die Wallfahrtsorte im Mittelpunkt der Europakarte stehen, noch eine der Technokratie, denn die hat gar keine Seele. Es muß ethische und sittliche Grundwerte geben, ein Weltethos! Alle, auch die Zweifler und Atheisten, sofern sie nicht einfach Nihilisten, sondern Humanisten sind, sollen ihren Beitrag leisten. In jeder Schulklasse, in jedem Unternehmen sollte die goldene Regel hängen: Tu nicht, was du nicht willst, daß dir ein anderer tut.

Sehen Sie die drei Weisen als eine Art Ethikkommission, die ein Ethikmanko in der Bevölkerung korrigieren soll?

Ich habe nichts übrig für dieses Unternehmen. Ich habe diesen Vorschlag weder gemacht noch mitgetragen, ich finde es einigermaßen peinlich, daß andere Nationen in dieser Form hier eine Nation überprüfen wollen. Ich habe auch nichts übrig für Leute wie Herrn Haider, insofern sie Parolen vertreten haben, die fremdenfeindlich und menschenfeindlich sind. Daß einige andere Nationen meinen, man kann untersuchen, was hier in Ordnung ist oder nicht, das finde ich reichlich arrogant. Man könnte auch eine Kommission nach Paris schicken, um zu schauen, wie weit da die Korruption in Regierungskreisen verbreitet ist oder was in Italien an ähnlichen Strömungen da ist. Das ist meines Erachtens nach nicht die richtige Methode. Vor allem müssen auch rechtliche Prozeduren eingehalten werden, so via Telefonseelsorge bestimmte Dinge abmachen und dann vertreten, das sei ein EU-Beschluß, das hat mir nicht gefallen.

Also goldene Regel auch innerhalb der EU?

Wenn ich einen Rat geben dürfte - ich weiß nicht, ob einer von den dreien das liest, aber der ganze Rapport würde in Österreich wesentlich besser und konstruktiver aufgenommen werden, wenn gleichzeitig auch gesagt würde, daß solche Forderungen auch ihre Rückseite haben für die anderen. Auch in anderen EU-Ländern hätte der Rapport einen besseren Effekt, wenn er zugleich ein Anlaß wäre zu überlegen: Haben wir nicht auch Fremdenfeindlichkeit in Dänemark oder in Südfrankreich, sogar in meiner Schweizer Heimat, die ja nicht zur EU gehört? Das müßte man auch im Sinne der goldenen Regel betrachten.

Wie kann man denn mit einem umfassenden Ethos durchdringen?

Einerseits von oben, über die Politik - Tony Blair zum Beispiel war bei unserer Stiftung "Weltethos" in Tübingen. Es muß von oben, aber auch von unten kommen. Unsere siebenteilige Filmserie Spurensuche ging an die Bundesländer, an Schulen, die das benutzen und das zum Anliegen machen, was einzelne Kirchen nicht können. Alle Bereiche müssen erfaßt werden: der Kindergarten, die Partnerschaft zwischen Mann und Frau, Abrüstung und Frieden . . . Ich weiß aus ungezählten Reaktionen, daß die Menschen sich danach sehnen, wieder etwas zu haben, woran man sich halten kann - aber ohne diese moralisierende Enge, die dann gleich den einzelnen in gewissen Sexualfragen festnageln will, was er in seinem Schlafzimmer tun soll. Ich habe nichts übrig für Moralisiererei. Aber die öffentliche und persönliche Moral soll sich an gewissen ethischen Standards ausrichten. Wie die im einzelnen interpretiert werden können, ist keine einfache Sache, da kommt die Dialektik zwischen Norm und Situation zum Tragen.

Was heißt Ehrfurcht vor dem Leben im Kontext der Gentechnologie?

Das kann man nicht einfach doktrinär von oben, von der Religion oder vom Ethos her entscheiden. Für überzeugende Lösungen muß das im Dialog mit den betreffenden Wissenschaftlern, die die Details wissen, ausgearbeitet werden.

Soll der Religionsunterricht durch Ethikunterricht ersetzt werden?

In Deutschland ist Ethikunterricht weit verbreitet, er kann parallel zum Religionsunterricht, aber auch im Fach Geographie anläßlich eines Films über China oder Indien stattfinden. Religionsunterricht soll zweierlei deutlich machen: Was im Ethos allen gemeinsam, und was spezifisch christlich ist. Die Bergpredigt hat natürlich Normen, die weit über ein Weltethos hinausgehen. Sie können nicht zum globalen ethischen Standard machen, zwei Meilen zu gehen, wenn sie einer gezwungen hat, eine mit ihnen zu gehen. Die Bergpredigt ist viel radikaler, und ein Christ ist oft herausgefordert, halt noch etwas mehr zu tun als das, was allgemein gängig ist. Das kann man nicht zum Gesetz machen.