Wir haben kein Problem, im 21. Jahrhundert das Adjektiv "modern" zu
vergeben. Wir bauen moderne Häuser, verwenden moderne Geräte, tragen
moderne Frisuren - doch bei der Kunst, da sträubt sich das Wort und
lässt sich durch "zeitgenössisch" vertreten. Als verselbstständigter
Begriff, als "die Moderne", liegt die Epoche längst hinter uns. Umfasste
allerdings weit mehr als Technik, Architektur, Kunstschaffen, wie das
"Victoria & Albert Museum" in London beweist. Das beginnende 20.
Jahrhundert strebte der Moderne auf allen Ebenen zu.
"Modernism" beziffert hier die Jahre von 1914 bis 1939, das Zeitalter,
das vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zum Ausbruch des Zweiten
reichte. Man könnte die Epoche auch als große Emanzipation bezeichnen:
Verstaubte Konventionen wurden abgelegt, Maschinen und Körper kamen in
Bewegung. Frauen schnitten ihr Haar zum "Bubikopf", entblößten ihre
Körper und wurden sportlich. Zu Hause bekamen sie praktische Küchen
eingebaut: Die Frankfurter Vorzeige-Küche Margarete Schütte-Lihotzkys
ist in London wieder aufgebaut. Und der Betrachter begreift: Die Größe
dieser Küche lag in ihren spartanischen Ausmaßen.
Mehr Gefühl für Körper und Ästhetik
Das neue Zeitalter wollte die Welt neu erfinden. Der moderne Mensch
sollte vor allem eines sein: frei. Nicht zuletzt im Politischen. Nach
Ende von Weltkrieg und russischer Revolution war Politik oft
gleichbedeutend mit Utopie, man träumte vom ewigen Frieden. Nach all dem
Leid glaubten viele an den neuen Menschen, der - in neuer "Gleichheit"
lebend - von allem mehr hatte: mehr Körpergefühl, mehr Empfinden für
Ästhetik, mehr Zeit für geistige Beschäftigung, mehr Rationalismus.
Linke Ideologien, befruchtet von der russischen Revolution, breiteten
sich über Europa aus. Russische Künstler wie Alexander Rodtschenko
beeinflussten auch die westliche Ästhetik. Gustav Klucis entwarf mit dem
Bleistift sportliche Menschen, die kühn aus Postkarten sprangen und den
Adressaten im Rest der Welt zeigten, was das neue Russland anlässlich
der Moskauer Spartakiade unter befreiten Menschen verstand.
Freikörperkultur und Bewegungskult führten zum Massensport, der bald
paramilitärische Züge annahm. Politische Bewegungen, wie der Kommunismus
in Russland, der aufkeimende Nationalsozialismus in Deutschland und der
Faschismus in Italien, instrumentalisierten dieses neue
Körperbewusstsein. Im Londoner Museumsshop ist übrigens Leni
Riefenstahls "Der Triumph des Willens" als DVD zu erwerben. Ein
Beweisstück, wie politische Agitation mittels ästhetizistischer
Überrumpelungseffekte betrieben wurde.
Der Besucher der
Ausstellung gewinnt überhaupt den Eindruck, dass die Moderne vor allem
eine neue Optik mit sich brachte. Sessel sahen auf einmal "entschlackt"
und einfach aus wie Marcel Breuers Stahlrohr-Club-Chair (1925, Berlin).
Bemerkenswert ist, dass die Moderne, die als illusionistisches
Experiment einiger Vordenker begann, ab 1925 - sobald sich die
Wirtschaft einigermaßen konsolidiert hatte - auch Produkte für den
Massenkonsum herstellte. Wobei sich die Designer gerne die Natur oder
ungeschönte Technikteile als Vorbild nahm. Gerade in Möbeldesign und
Architektur reichen die Nachwirkungen des Modernismus bis heute,
Künstler schöpfen aus diesem Ideenbrunnen ganz unverblümt.
Als
kleine, singuläre Sensation hingegen darf Oskar Schlemmers Triadisches
Ballett bezeichnet werden, das man im "V+A Museum" als Videoanimation
sieht. Aus maschinell-industrieller Fertigung stammende Teile tanzen,
bedeutende Komponisten der Zeit, etwa Paul Hindemith, steuerten damals
Musik zu diesem Projekt bei.
Volksempfänger und Volkswagen
Ohne die rasch fortschreitende Technik wäre die Moderne undenkbar.
Der Mensch, befreit von vielen zeitraubenden manuellen Tätigkeiten,
findet Zeit für Sport - meist organisiert in Sportvereinen, die passive
Sportbegeisterung wird durch Verbreitung der Massenmedien gefördert. Und
auch die Industrie leckte das Blut der Massenfertigung - für das
NS-Regime hießen die Reizworte Volksempfänger und Volkswagen.
Die Objekte in London stammen größtenteils aus Europa, dem Kontinent, in
dem die politischen Ideen der Moderne dramatische Auswirkungen
zeitigten. Einige Exponate sind amerikanischen Ursprungs. Die Moderne
ist eine Epoche der Großstadt, die Zentren befanden sich in Moskau,
Paris, Prag und New York.
Dem "angewandten" Geist des "V+A
Museums" entsprechend, liegt der Schwerpunkt der Exponate auf Design und
Architektur. Der Besucher von "Modernism" bekommt durch den geschickten
Aufbau der Ausstellung jedoch so viele verschiedene Aspekte
präsentiert, dass er beim Verlassen spürt: Wir alle sind Kinder der
Moderne. Und dass künstlerisch wertvolles Design auch der
Massenfertigung zugänglich sein kann, fasziniert heute mehr denn je.