Richard Gerstl "Portrait der Familie Schönberg"

URSPRÜNGE DER MODERNE

Betrachtungen anläßlich einer Ausstellung im
Londoner Victoria & Albert Museum.

(2006)

Tanz der Technik, Kult der Körper

Wir haben kein Problem, im 21. Jahrhundert das Adjektiv "modern" zu vergeben. Wir bauen moderne Häuser, verwenden moderne Geräte, tragen moderne Frisuren - doch bei der Kunst, da sträubt sich das Wort und lässt sich durch "zeitgenössisch" vertreten. Als verselbstständigter Begriff, als "die Moderne", liegt die Epoche längst hinter uns. Umfasste allerdings weit mehr als Technik, Architektur, Kunstschaffen, wie das "Victoria & Albert Museum" in London beweist. Das beginnende 20. Jahrhundert strebte der Moderne auf allen Ebenen zu.

"Modernism" beziffert hier die Jahre von 1914 bis 1939, das Zeitalter, das vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zum Ausbruch des Zweiten reichte. Man könnte die Epoche auch als große Emanzipation bezeichnen: Verstaubte Konventionen wurden abgelegt, Maschinen und Körper kamen in Bewegung. Frauen schnitten ihr Haar zum "Bubikopf", entblößten ihre Körper und wurden sportlich. Zu Hause bekamen sie praktische Küchen eingebaut: Die Frankfurter Vorzeige-Küche Margarete Schütte-Lihotzkys ist in London wieder aufgebaut. Und der Betrachter begreift: Die Größe dieser Küche lag in ihren spartanischen Ausmaßen.

Mehr Gefühl für Körper und Ästhetik

Das neue Zeitalter wollte die Welt neu erfinden. Der moderne Mensch sollte vor allem eines sein: frei. Nicht zuletzt im Politischen. Nach Ende von Weltkrieg und russischer Revolution war Politik oft gleichbedeutend mit Utopie, man träumte vom ewigen Frieden. Nach all dem Leid glaubten viele an den neuen Menschen, der - in neuer "Gleichheit" lebend - von allem mehr hatte: mehr Körpergefühl, mehr Empfinden für Ästhetik, mehr Zeit für geistige Beschäftigung, mehr Rationalismus.

Linke Ideologien, befruchtet von der russischen Revolution, breiteten sich über Europa aus. Russische Künstler wie Alexander Rodtschenko beeinflussten auch die westliche Ästhetik. Gustav Klucis entwarf mit dem Bleistift sportliche Menschen, die kühn aus Postkarten sprangen und den Adressaten im Rest der Welt zeigten, was das neue Russland anlässlich der Moskauer Spartakiade unter befreiten Menschen verstand.

Freikörperkultur und Bewegungskult führten zum Massensport, der bald paramilitärische Züge annahm. Politische Bewegungen, wie der Kommunismus in Russland, der aufkeimende Nationalsozialismus in Deutschland und der Faschismus in Italien, instrumentalisierten dieses neue Körperbewusstsein. Im Londoner Museumsshop ist übrigens Leni Riefenstahls "Der Triumph des Willens" als DVD zu erwerben. Ein Beweisstück, wie politische Agitation mittels ästhetizistischer Überrumpelungseffekte betrieben wurde.

Der Besucher der Ausstellung gewinnt überhaupt den Eindruck, dass die Moderne vor allem eine neue Optik mit sich brachte. Sessel sahen auf einmal "entschlackt" und einfach aus wie Marcel Breuers Stahlrohr-Club-Chair (1925, Berlin). Bemerkenswert ist, dass die Moderne, die als illusionistisches Experiment einiger Vordenker begann, ab 1925 - sobald sich die Wirtschaft einigermaßen konsolidiert hatte - auch Produkte für den Massenkonsum herstellte. Wobei sich die Designer gerne die Natur oder ungeschönte Technikteile als Vorbild nahm. Gerade in Möbeldesign und Architektur reichen die Nachwirkungen des Modernismus bis heute, Künstler schöpfen aus diesem Ideenbrunnen ganz unverblümt.

Als kleine, singuläre Sensation hingegen darf Oskar Schlemmers Triadisches Ballett bezeichnet werden, das man im "V+A Museum" als Videoanimation sieht. Aus maschinell-industrieller Fertigung stammende Teile tanzen, bedeutende Komponisten der Zeit, etwa Paul Hindemith, steuerten damals Musik zu diesem Projekt bei.

Volksempfänger und Volkswagen

Ohne die rasch fortschreitende Technik wäre die Moderne undenkbar. Der Mensch, befreit von vielen zeitraubenden manuellen Tätigkeiten, findet Zeit für Sport - meist organisiert in Sportvereinen, die passive Sportbegeisterung wird durch Verbreitung der Massenmedien gefördert. Und auch die Industrie leckte das Blut der Massenfertigung - für das NS-Regime hießen die Reizworte Volksempfänger und Volkswagen.

Die Objekte in London stammen größtenteils aus Europa, dem Kontinent, in dem die politischen Ideen der Moderne dramatische Auswirkungen zeitigten. Einige Exponate sind amerikanischen Ursprungs. Die Moderne ist eine Epoche der Großstadt, die Zentren befanden sich in Moskau, Paris, Prag und New York.

Dem "angewandten" Geist des "V+A Museums" entsprechend, liegt der Schwerpunkt der Exponate auf Design und Architektur. Der Besucher von "Modernism" bekommt durch den geschickten Aufbau der Ausstellung jedoch so viele verschiedene Aspekte präsentiert, dass er beim Verlassen spürt: Wir alle sind Kinder der Moderne. Und dass künstlerisch wertvolles Design auch der Massenfertigung zugänglich sein kann, fasziniert heute mehr denn je.