GEORGES PRETRE

Musikalische Leidenschaft - 1000 %

Ein Artikel im Magazin der Gesellschaft der Musikfreunde          (Februar 2010)

Georges PrêtreLeidenschaft hat kein Alter, und zeitlos ist die Glut seines Musizierens. Nach demNeujahrskonzert der Wiener Philharmoniker dirigiert Georges Prêtre im Februar die WienerSymphoniker. Zum zweiten Mal innerhalb von zwei Jahren das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker –doch auch die Eröffnung der neuen Pariser Bastille-Oper in Paris, 1989, die letzte Vorstellungin der alten New Yorker Metropolitan Opera, 1966, wenige Wochen später die erste „Traviata“an der „neuen Met“, das Neujahrskonzert im nach dem Brand wiedererstandenen Teatro LaFenice in Venedig, das Konzert zum österreichischen Nationalfeiertag 2009 in Linz ...
Man kann Jahrzehnte zurückgehen oder auch Monate oder nur Wochen, um auf diesen Maestro zustoßen. Und doch ist Georges Prêtre alles andere als einer jener glamourösen Pultstars, diekein „Event“ auslassen und sich immer dann ins Bild rücken, wenn TV-Kameras in der Nähesind.
„Mein Großvater hat viele Gesichter“, weiß auch Enkelsohn Alexander, musikbegeisterter Jusstudent, zurzeit auf Erasmus-Semester in Wien.
Es gab und gibt den prominenten, nicht nur in Wien bekannten und geliebten Georges Prêtre.Es gab aber jahrelang auch den in Frankreich weniger präsenten Georges Prêtre, dereinstweilen in Amerika Karriere machte, um diese dann an der Mailänder Scala fulminantfortzusetzen. Noch vor kurzem staunten Prêtres Landsleute in der französischen Botschaft, die anläßlich der Buchpräsentation zu seiner ersten (!) Biographie 2009 nach Material für eine Rede recherchierten: Im Internet finden sich relativ wenige Einträge zu Georges Prêtre. Wer auf dem aktuellen CD-Markt stöbert, stößt erstaunlicherweise nur auf vereinzelte erhältliche Aufnahmen mit dem Pultstar.
Diese jedoch fallen zweifellos in die Kategorie: hochberühmt. Da steht ein Georges Prêtre auf dem Cover von Plattenaufnahmen mit keiner Geringeren als Maria Callas ... Sie hat ihn stetsals ihren „chef préferé“ bezeichnet. Doch er entzog sich nach ihrem frühen Tod jeglichen Kommentars zu „La Divina“, mit der er und seine Ehefrau auch privat gut befreundet waren. So wie er sich dem Opernbetrieb entzog – wegen werkuntreuer Regisseure oder mangelhafter Probenbedingungen –, so floh er stets auch eine feste Bindung an ein Haus. Ein Orchesterheiraten? Nein. Verlobungsverhältnisse waren ihm lieber.

Das Feuer der Leidenschaft

Seine einzelnen Karriereschritte folgten kontinuierlich, aber es hielt ihn auf keiner Stufe längerals ein paar Jahre. Und doch festigte sich allerorten sein Ruf: Wenn der Name Prêtre auf demProgrammzettel steht, ist für einen hohen Erlebnisgehalt der Aufführung garantiert. Prêtrebrennt, er verausgabt sich heute, als 85-Jähriger, genauso wie vor Jahrzehnten, als er sich alsblutjunger Kapellmeister in Marseille seine ersten Opernsporen verdiente. Sein Maß waren niemals nur neunundneunzig Prozent, sondern mindestens zweihundert. So will es sein überschäumendes Naturell.
Als Sohn eines Stiefelmachers in der Nähe der nordfranzösischen Stadt Douai geboren, hat erseinen musikalischen Fanatismus schon als Kleinkind genährt. Niemand in seinem Umfeld,weder die eigene Familie noch die Gäste, die die Prêtre’sche Brasserie und das angeschlossene Stummfilmkino frequentierten, pflegten eine Beziehung zur klassischen Musik. Aber die Großmutter hatte sich einen dieser Wunderapparate namens Radio gekauft –und diesem lauschte das Kind, fasziniert, hingegeben. Besonders die Übertragungen des Radio-Symphonieorchesters Lille hatten es ihm angetan, und wenn wieder einmal eines der Vorspiele von Richard Wagner auf dem Programm stand, dann festigte sich in dem Kind eine Idee: Er selbst wollte Musik machen. Nicht als Amateur, wie seine Kameraden in den Blasmusikkapellen der Bergmannschaften im französischen Norden. Nein, als Berufsziel.
Also trotzte er dem Vater ab, Klavier lernen zu dürfen, später auch Trompete. An der Seite von Edith Piaf „A l’epoche ...“ beginnt er gerne seine Erzählungen aus der Jugend, auch die, wieso er just das Blasinstrument erwählte – denn eigentlich wollte er Geige zusätzlich zum Klavier lernen. Sein Professor, stets nach potenziellen Mitstreitern für sein Blasmusikorchester ausschauend, hätte ihn gerne als Oboist gesehen. Doch als klein Georges mit seinem Vater den Musikinstrumentenkatalog studierten, da fiel der Blick des Buben auf den Preis der Oboe. Sie kostete damals so viel wie ein Citroën: 2.780 Francs! Das Kind blätterte um, und siehe da: Eine Trompete war schon um 1.880 Francs zu haben. So wurde aus Georges ein guter Trompeter, was ihm als Student des Pariser Konservatoriums die Möglichkeit eröffnete, nicht nur Klassisches zu spielen, sondern auch in Jazzlokalen zu substituieren und an der Seite von Legenden wie Edith Piaf und Yves Montand aufzutreten.
Der Junge aus dem französischen Kohlepott war ein eifriger Student mit dem erklärten Ziel, Opernkomponist zu werden.

Lebensfrage hinter den Posaunen

Schon damals liebt er Stimmen über alles. So erbittet er die Erlaubnis, in der Pariser Oper, aufeinem Schemel versteckt hinter den Posaunen, den Aufführungen folgen zu dürfen. Eines Tages steht ein „guter Musiker, aber schlechter Dirigent“ vorne und schlägt leidlich den Takt. Der junge Prêtre ärgert sich: Wieso nimmt er diese Phrase so? Warum betont er gerade jene Stelle? Alles, was der beobachtete Maestro tut, mißfällt dem partiturlesenden Eleven, denn keine der Aktionen des agierenden Dirigenten harmoniert mit den Vorgaben desKomponisten.
Das ist der Moment, in dem er beschließt, selbst Dirigent zu werden. Zwar wird er noch eine Phase als Operettenkomponist durchleben – sein Werk „Pour Toi“, das an verschiedenen französischen Häusern erfolgreich aufgeführt wird, wird er seiner Ehefrau Gina widmen, die er in seiner „Schicksalsstadt“ Marseille kennenlernt –, doch wir greifen vor ...
Die Dirigierklasse am Konservatorium schließt er ohne Erfolg ab. Um ja alles richtig zumachen, gibt er uninspiriert, aber metronomisch perfekt den Takt vor. Dem Misserfolg zumTrotz fragt er den belgischen Dirigenten André Cluytens ganz direkt: „Maestro, ich möchteIhnen nicht viel Zeit stehlen, aber bitte sagen Sie mir ganz offen, ob ich Ihrer Meinung nachzum Dirigenten geboren bin.

“Nicht Dirigent, sondern Interpret"

Geboren! Georges Prêtre glaubt nicht daran, dass man das Dirigieren lernen kann. Zum Vordirigieren in einem klavier- und fensterlosen Probenraum bringt der junge Musikenthusiast Debussy „Nuages“ mit. Prêtre lässt seinen Emotionen freien Lauf, er „malt“ die impressionistischen Wolken Debussys ganz so, wie er sie sich vorstellt. Die Reaktion folgt sofort, nach wenigen Takten unterbricht ihn Cluytens: „Warum erlauben Sie sich das? Diese Rubati, diese Phrasierungen?“ Die Antwortdes blutjungen Prêtre kommt wie aus der Pistole geschossen: „Weil ich es fühle, Maestro.“ Cluytens Replik, ein schlichtes „Bravo“, wird zur Schicksalswende in Prêtres Berufsweg. Er wird Dirigent. Einer, der die Musik so zärtlich liebt, dass er sie nicht „schlagen“, sonderner fühlen will.
Er grenzt sich in seiner unendlichen Liebe zu seiner Berufung auch in derBerufsbezeichnung ab: „Ich bin kein Dirigent, un, deux, trois. Ich bin Interpret.“ Den Unterschied hört man. Le secret du bonheurAls Franzose versteht es Prêtre durchaus, seinen Charme spielen lassen. Doch er kann auchunerbittlich sein – und er legt stets Wert darauf, authentisch zu bleiben. Übrigens auch im Privaten. Er steht zu „meiner einfachen Herkunft. Dazu, dass ich gläubiger, praktizierender Katholik bin.“ Er bekennt sich ein Leben lang leidenschaftlich zu seiner Familie: zu Ehefrau Gina, der Tochter seines ersten Operndirektors Jean Marny in Marseille, einer gelernten Sängerin, mit der er seit nunmehr sechzig Jahren glücklich verheiratet ist und mit der er einen Sohn und eine Tochter hat.
Authentizität heißt für ihn auch: Er wollte niemals jemand anderer als „ich selbst“ sein. Es gab kein Idole, die er je nachahmen wollte.
Seine Glücksquellen? „Die Musik. Die Familie. Die Einsamkeit.“ Er schätzt die Stille, „man kann die Schönheit derStille nicht genug preisen, in Ruhephasen passieren die wichtigsten Dinge.“

Der Atmosphäre zugetan

Prêtre ist nicht nur musikalisch ein leidenschaftlicher, glühender Interpret – er kann ebensoerzählen. Theatralisch setzt er seine Pointen, auch verbal. Nur über Musik spricht er nicht gerne: „Ich sehe Bilder vor mir, oft höre ich Dialoge, beispielsweise den zwischen einem Mann und einer Frau. Musik muss etwas zu sagen haben.“ „Rezitativ“ lautet sein Zauberwort.Er betont immer wieder: „Ich brauche kein deutsches Orchester, um einen spezifisch deutschen Klang zu erzeugen, und kein französisches, um typisch französische Musik zum Erklingen zu bringen. Ich liebe ja Pferde: Ein Orchester ist wie ein Vollblut, ich reite einen Parcours mit ihm.“ Und dieser Maestro, den die Musiker in seiner frühen Phase als durchaus autoritär und zu Wutausbrüchen neigend kennenlernten („Es stimmt, ich habe als junger Künstler auch manchmal mein Dirigierstäbchen in höchster Erregung coram publico zerbrochen ...“), sagt heute: „Ich nötige keinem Orchester einen Klang auf. Ich lasse den Klang zu mir kommen. Ich bin der Atmosphäre zugetan.“Flüchtig, aber perfekt Prêtre ist einer der raren großen Maestri, die imstande sind, ein Stück wirklich zuinterpretieren. „Ich bin kein Intellektueller, aber ich habe eine Nase“, sagt er gerne über sichselbst. Und er strebt in der Musik – wie im Leben – ein Ziel an: das der Wahrheit, wiewohl er  weiß. „Es jemals zu erreichen ist illusorisch.“
Bei ihm darf es keine Repertoireaufführung geben. „Jedes Mal spielen wir die Premiere.“Kaum glaubt er in einer Probe Routine, das, was in Wien nach „Schlendrian“ klingt, zu hören, feuert er seine Musiker an: „Champagne!“ Und wenn die Musik dann prickelnd, aufregend –wie zum ersten Mal gespielt – ertönt, dann freut er sich wie ein Kind. Die Zukunft der klassischen Musik sieht er „ohne Krise“. Es seien die Massenmedien, Zeitungen und Fernsehen, sagt er, die ihren Kulturauftrag heute oft mangelhaft bis gar nichtwahrnähmen. Und das sei ein unverzeihbares Versäumnis, denn Musik sei zwar di e„flüchtigste, aber auch die perfekteste Kunstform“.